Dienstag, 19. Juli 2011

Walter Jenzig hat eine Idee (Teil 2 von 2)

(Fortsetzung)

Edina, ihre sehr sehr sehr gute Freundin, kam ins Haus und betrat die Küche. "Oh Gott, es ist alles so ätzend", sagte sie zu Janka. "Ich weiß, was Du meinst“, antwortete ihr Janka. „Ich fühle mich auch total fertig." Janka zog den Gürtel über ihrem gestrickten Oberteil enger. Edina ließ derweil ihren Finger über einige vergessene Salzkörner auf dem Küchentisch gleiten, leckte ihn ab und zog dabei ein Gesicht. "Ich soll sicherheitshalber diese salzigen Pillen nehmen, sagt der Doktor." Edina zog ihre Nase in Falten. "Aber davon bekomme ich ein Gefühl, als ob es mich von oben auf den Boden klatscht. Warum müssen immer nur die Frauen für alles büßen?"

Janka begann derweil, sich unter ihrem Kinn zu reiben und ihren Kopfe zu lockern, bis die Halswirbel leise knirschten, eine Übung, die sie neulich im Fernsehen gesehen hatte und die den Kopf vom Kopfschmerz befreien soll. "Gott, bitte, Edina. Rede bitte nicht von salzigem Geschmack, sonst muss ich gleich kotzen." Janka stand vom Tisch auf und ging zum Wandschrank, holte ein Glas heraus und füllte es an der Spüle mit Wasser. "Also ich denke, ich rühre NIEMALS WIEDER Wodka an", schrie sie laut um sich dann wieder an den Tisch zu ihrer Freundin zu setzen. "Vielleicht ruft mich Walter ja an", sagte Janka mit einem flüchtigen Blick zum Telefon „und holt mich raus aus der Scheiße hier. Aber es ist ja wirklich alles so langweilig und tot hier, im Vergleich zu Jena. Was soll man da auch anders machen als...“. Edina nagte derweil an der Haut ihrer Hand.

"Nach dem gestrigen Abend, dachte ich, dass Du möglicherweise mit Zoltan durch sein würdest und ihn abschießt", nahm Edina das Gespräch wieder auf. "Ich weiß, was Du meinst", sagte Janka und schüttelte den Kopf. "Mein Gott, war er ja wie eine Krake. Seine Hände waren überall", gestikulierte sie, ihre Arme zur Verteidigung anhebend. "Es ist doch so, weißt Du: nach einer Weile wirst Du müde, gegen ihn zu kämpfen. Und schließlich tat ich Freitag und Samstag nicht wirklich mehr etwas gegen ihn, außer zu sagen, dass es mir noch zu früh ist. Und da war ich es ihm, dachte ich jedenfalls, gestern wohl schuldig, wenn Du weißt, was ich meine und nacher war es zuerst gut, aber es nahm und nahm ja kein Ende und puuh." Sie begann ihren Mund zu verziehen, während Edina kicherte.

"Ich sag‘ Dir: mir ging es letzte Woche genauso mit Jozef. Aber nach einer Weile..." nun beugte sie sich vorwärts und flüsterte Janka ins Ohr "...wollte ich es auch." Jetzt lachten beide sehr laut.

In diesem Moment läutete Herr Kertez von der örtlichen Spedition Nagy an der Türklingel des kleinen Wohnhauses in Pini, einem südlichen Vorort von Lugoj. Als Janka Szabo die Tür öffnete, half er ihr, die große Holzkiste hinein zu tragen. Er hatte gelbe und graue Papierbelege zum unterschreiben dabei und, mit einem kleinen Trinkgeld (Walter kannte seine Janka eben wirklich gut), ging er wieder zu seinem Lastwagen und fuhr weiter Kisten und Pakete aus.

"Was denkst Du, was das ist?" fragte Edina. Janka stand da, die Arme hinter ihrem Körper gefaltet, schaute auf die nun mitten im Wohnzimmer stehende Holzkiste und murmelte: "Keine Ahnung."

Im Innern der Kiste bebte Walter derweil vor Aufregung, während dem er den gedämpften ungarischen Stimmen lauschte, von denen er eine sofort als die von Janka erkannte. Edina ließ ihren Fingernagel über den Deckel der Kiste streifen. "Warum schaust Du nicht auf den Absender, um zu sehen von wem es ist?". Walter fühlte seinen Herzschlag immer stärker werden und es war ihm, als könne er aus seiner gepolsterten Kiste heraus trotzdem jede einzelne Bewegung der beiden sehen.

Janka ging um die Kiste herum und las den mit Füller geschriebenen Aufkleber. "Oh mein Gott, es ist von Walter!" "Das fetzt," sagte Edina und fügte an, "Gerade vorhin hattest Du noch von ihm gesprochen und ob er mal wieder anrufen würde." Im Innern der Kiste Walter jauchzte derweil Walters Herz, als er dies hörte und er bebte vor Erwartung. Zwar war sein Ungarisch nicht so gut, dass er flüssig sprechen konnte, aber Ungarisch verstehen, das konnte er wirklich gut.

"Du könntest die Kiste ja vielleicht mal öffnen," sagte Edina und beide versuchten nun den festsitzenden Deckel anzuheben. "UHHHHH!," sagte Janka ärgerlich "er muss sie mit tausenden von Nägeln verschlossen haben." Sie zerrten nochmals am Deckel. "Mein Gott, da brauchst Du ja ein Brecheisen, um das zu öffnen." Sie zogen ein letztes Mal und Edina sagte dann: "Man bekommt einfach keinen Halt an der Seite. So geht das jedenfalls nicht auf." Beide standen schwer atmend vor dem Paket. "Warum holst Du Dir keine Messer?" fragte Edina. Janka ging in die Küche und schaute sich um, doch alles, was sie dort finden konnte, war ein Paar Küchenmesser. Dann erinnerte sie sich aber, dass ihr Vater im Keller eine kleine Sammlung von Werkzeugen hatte.

Janka lief nach unten und als sie wieder zurück im Wohnzimmer war, hielt sie ein langes Stemmeisen und einen großen Vorschlaghammer in die Höhe. "Das ist das Beste, was ich finden konnte." sagte laut schnaufend. "Hier, mach Du es", sagte sie dann, ließ sich auf die große weiche Couch sinken und atmete laut hörbar aus.

Edina versuchte einen Schlitz zwischen Deckel und den Seitenteilen zu stemmen, aber das Stemmeisen war zu groß und es gab nicht genügend Raum, es richtig anzusetzen. "Verfluchte Sache," sagte sie in sehr ärgerlichem Ton. Aber dann lächelte sie urplötzlich.

"Was denn?“, wollte Janka wissen und schaute sie fragend an. "Pass auf, meine Kleine", sagte Edina und berührte mit dem Stemmeisen leicht die Oberseite des Deckels. „Es steht zwar 'Zerbrechlich' drauf, aber vielleicht ist Eure Liebe ja gar nicht so zerbrechlich und hält das aus. Was immer er Dir da in die Kiste gepackt hat, ich haue da jetzt drauf und wir werden sehen, was passiert.“ Janka nickte ihr zu.

Im Innern des Pakets verstand Walter derweil kaum noch etwas von dem, was draußen gesprochen wurde. Vielleicht war es auch der fehlende Sauerstoff, durch seine aufgeregte Atmung, denn während der ganzen Reise hatte er stets nur langsam geatmet, damit sich durch die Luftschlitze immer wieder genügend Sauerstoff ins Innere seiner Kiste nachfüllen konnte. Aber Walter glaubte nun, seinem Herzschlag bis in sein Gehirn nachverfolgen zu können. Gleich würde so weit sein.

"Nun mach endlich auf", sagte Janka. Edina ging um die Holzkiste herum. Dann setzte sie das Stemmeisen genau in der Mitte des Deckes an, Janka kam ihr zur Hilfe und umgriff es fest mit beiden Händen, während Edina den Vorschlaghammer nahm, tief Luft holte und dann das Stemmeisen mit aller Wucht durch die Mitte des Dekels, durch zwei Lagen Pappe, durch eine Kissenpolsterung genau durch die Mitte von Walter Jenzigs Kopf trieb, aus dem sich mit einem Mal eine kleine Fontäne entwickelte, die sich, nachdem Janka das Stemmeisen aus dem Deckel herausgezogen hatte, auch aus dem Deckel der Kiste erhob und sich im Rhythmus von Walters Herzschlag, pulsierend mit der ungarischen Mittagssonne vermischte und, immer schwächer werdend zwar, aber eine Zeit lang wunderschön anzuschauen war.

Zu Ehren von Walter Jenzig (und zwar weil dieser die Grenzbehörden mehrerer sozialistischer Bruderstaaten auf eklatante Mängel in der Kontrolle von Stückgut hingewiesen hatte) wurde noch zu DDR-Zeiten ein Berg am Rande der Lichtstadt in 'Jenzig' umbenannt. Zuvor hieß der einfach 'jancko gora': Jenaer Berg. Nun aber ist dieser Lankmark für immer mit Walter Jenzig und dessen Geisteblitz des sparsamen Reisens verbunden. Eine Laterne am Gipfel soll dabei die Stelle markieren, an der Walter Jenzig zum letzten Mal seine Idee durch den Kopf ging, bevor er auf so unglückliche Weise ums Leben kam.

(aus: "Switched-On Kabarett VI")

Keine Kommentare: