Beim Discounter gab es mal wieder günstige Bahn-Fahrkarten und da mein Kontoauszug überraschender Weise ein kleines Guthaben auswies, kaufte ich mir deren zehn. Zehn Bahntickets mit jeweils einer Hin- und Rückfahrt für ganze 55 Euro das Stück. Nicht weil ich Viel-Fahrer bei der Deutschen Bahn werden wollte ... Gott bewahre, nein! Ein guter Freund hatte mir dazu geraten, denn so könne ich in kurzer Zeit eine Menge Geld verdienen und viele Menschen dazu noch glücklich machen. Ich selbst versprach mir davon einen Crashkurs in Kapitalismus - wenn alles gut lief vielleicht sogar einen Cashkurs.
Zehn Bahn-Fahrkarten lagen also kurz darauf vor mir auf dem Tisch und die versprachen für je 55 Euro zwei beliebige Fahrten quer durch Deutschland. Für 55 Euro kommt man ja heutzutage höchstens von Jena nach Leipzig und das noch nicht einmal mit dem ICE-Train. Mein Freund hatte mir auch gleich einen Tipp mit gegeben, wie ich die Tickets wieder loswerden könnte: über eine Annonce bei einer lokalen Mitfahrzentrale. Keine exorbitanten eBay-Gebühren, kein Versand, nein: denn willige Menschen rufen mich an, besuchen mich und holen sich das Objekt ihrer Begierde gleich bei mir ab.
Um 4 Uhr 30 morgens läutet mein Handy zum ersten Mal. Noch schlaftrunken nenne ich dem Anonymus meine Adresse. Um 6 Uhr stehe ich dann endlich auf, weil mich inzwischen immer wieder jemand aus dem Schlaf gerissen hat. Noch unter der Dusche läutet es an meiner Tür. Ich ziehe den Bademantel über und öffne. Gleich der erste Käufer will mit mir feilschen: 69 Euro hatte ich mir vorgestellt, weil diese Zahl einfach geil ist, wie ich gestern Abend vor dem Einschlafen fand. Allerdings hatte ich dabei nicht bedacht, dass ich jetzt zumindest immer mit ein paar Euromünzen in der Tasche herumlaufen muss, vor allem, wenn die Menschen mit mir feilschen wollen. Um der Sache ein schnelles Ende zu bereiten, einigen uns auf 65. Toll, zehn Euro Gewinn und das Wechselgeld gespart.
Die nächste Anruferin möchte sich mit mir bei Mr. Beans auf einen Kaffee treffen. Vorher muss ich aber noch den Touristen zu mir navigieren, der schon drei Anrufe lang durch Jenas Straßen irrt und meine Wohnung nicht finden kann. Er nimmt das Ticket für 70 Euro und bedankt sich noch überschwenglich bei mir. Im Mr. Beans finde ich die Anruferin, Claudia, sofort. Ganz Geschäftsmann, der ich inzwischen bin, frage ich Claudia, ob sie für mich gleich einen Kaffee mitbestellt hat. Hat sie nicht. Ist auch ganz gut, denn sie sieht zwar total nett aus, hat aber von Angebot und Nachfrage noch nie etwas gehört. Als sie feststellt, dass die Tickets für "nur 55 Euro" gekauft habe, sagt sie mir, 69 Euro sei unverschämt, sie sehe das nicht ein usw., weil: ihr Bruder hätte ihr die Tickets beim Discounter holen sollen, hat aber die Aktion verpennt. Am Ende will sie mir 60 Euro geben, ich verzichte dankend und sie steht auf, zieht wütend von dannen und ruft mir noch ein "Arschloch!" nach, obwohl ich niemals vorgegeben hatte, dass ich eine karitative Vereinigung wäre. Wahrscheinlich wird sie sich später eine einfache Fahrt für 95 Euro gekauft haben. Also ehrlich: Solche Idealisten kann man einfach nur bewundern. Sie scheitern immer wieder in unserer Welt und stehen trotzdem voller Moral jedes Mal wieder auf und rennen von neuem gegen die Wand.
Das nächste Mädel wartet schon auf der Treppe vor meiner Wohnung. Ich biete ihr, ganz edel, einen Kaffee an, denn den hatte mir Claudia ja vorenthalten. Sie dankt mir, sagt, dass sie Susann heißt und Studentin sei, nippt am Kaffee und eine knappe halbe Stunde später weiß ich alles über die Eheprobleme ihrer Eltern, was ihre zwei Cousins und die vier Nichten machen, kenne ihre Urlaubspläne und wann man sie immer im Rosenkeller finden kann. Als ich über die Verspätungen der Deutschen Bahn zu lametieren beginne, steigt Susann hellauf begeistert ein. Man sieht: Gemeinsame Feinde schweißen auch die fremdesten Menschen für immer zusammen. Als das Gespräch wieder in Richtung ihrer Mama abdriftet, lege ich die zwei Tickets auf den Tisch, sie zahlt 140 Euro, ich gebe ihr zwei zurück und wünsche ihr noch eine gute Fahrt in vollen Zügen.
Inzwischen mache ich mir durchaus Gedanken darüber, wo das moralische Problem beim Weiterverkauf von günstigen Bahn-Tickets liegen soll, da klingelt es wieder. Diesmal ist es ein Student, der voller Enthusiasmus sagt: "Geil, nur 70 Euro, alle anderen wollen 100." Das wiederum hebt mich schon fast vom Sheriff von Nottingham in den Stand eines Robin Hood. Oder noch höher, denn ich habe ja meine zehn Fahrkarten ordentlich bezahlt. Nachdem alle Fahrkarten ihren Besitzer gewechselt haben, bin ich um rund 150 Euro und etliche Erfahrungen reicher als zuvor.
Spät abends klingelt immer noch das Telefon. "Nein", sage ich "leider habe ich keine Tickets mehr". Ein Anruf lässt ich aufhorchen. "Ich habe gesehen, Sie verschenken einen Rottweiler, ist der noch zu haben?" Wie, was, welcher Rottweiler? Die Antwort ist einfach: Ein Gutmensch, der den Weiterverkauf meiner Tickets boykottieren will, weil er es wahrscheinlich verwerflich findet, hat unter meiner Telefonnummer einen Rottweiler annonciert - für lau natürlich. "Nein, auch schon weg", antworte ich. Von nun an klingelt das Telefon im Halb-Stuudentakt. Ein zu verschenkender Kampfhund scheint, trotz aller dazugehöriger Behördenprobleme und Steuernachteile, noch begehrter als Bahn-Tickets zu sein. Noch nachts um Drei läutet bei mir das Telefon. "Ob der Hund noch da sei?", möchte man wissen. Erst dann lege ich verzweifelt den Hörer neben das Telefon.
Am nächsten Morgen hat sich bei mir zumindest die Meinung gefestigt, dass es moralisch nicht vertretbar ist, die Telefonnummer fremder Leute zu missbrauchen, die Weitergabe begehrter Fahrkarten aber schon. Wieder klingelt das Telefon. Jemand fragt nach einer Mitfahrgelegenheit. Als ich ihm erkläre, dass keine Tickets mehr da sind, sagt er: "Du willst mir also Tickets für die Deutsche Bahn verkaufen, Du Schwein!" Ich lege auf und meine Reihenfolge der Moral steht. Platz 1 für den Ticketverkäufer, Platz 2 für Telefonnummern-Mißbrauch und ganz unten auf Platz 3 landet jemand, der einen unbekannten Fahrscheinverkäufer als Schwein bezeichnet.
Machen denn die hohen Bahnpreise alle Menschen wahnsinnig? Ich lasse meinen zweitägigen Crash-Kurs in Kapitalismus noch einmal Revue passieren. 150 Euro verdient, Menschen kennengelernt, keinen Kampfhund verschenkt, wenig Schlaf gehabt, als Schwein beschimpft worden. - Was solls? So leben sie eben, die Kapitalisten.
[Inspiriert von der Geschichte "Mit Lidl-Tickets auf den Schwarzmarkt" von Marcus Paul]
Dienstag, 13. Januar 2009
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