Mittwoch, 12. Mai 2010

Der mittlere Osten

„Geschichte ist die Lüge, auf die sich alle geeinigt haben.“
Napoleon Bonaparte

Ich heiße Thorsten, mit "Th", und komme aus dem Westen. Seit ich kurz nach der Wende mit etlichen andern Gleichgesinnten in die Neufünfländer gekommen bin, bemühe ich mich, so zu werden, wie die Ostdeutschen Ureinwohner dort. Im grunde fanden die das weder rührend, noch befremdlich, sondern selbstverständlich, wollte ich doch viel von ihnen lernen. Das hatte ich mir, getreu dem Motto der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in der DDR, "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen", vorgenommen. Und meine neuen Mitbürger halfen ihrem neuen Mitbürger, sich zu assimilieren, zumindest aber nicht sofort überall unangenehm aufzufallen.

Also wohne ist seit 1991 im mittleren Osten, wähle treu die linke Staatspartei, versuche mich konsequent von der Macht des kapitalistischen Marktes zu emanzipieren und zog mich anfangs sogar so an, wie ich dachte, dass sich der geborene Ostdeutsche anzieht. Ich kaufte in Antiquariaten Bücher über DDR-Fernsehserien, recherchierte alles über russische Panzern, kollektive Töpfchensitzungen, IMs und Braunkohleabbau, konnte schnell bei Pittiplatsch, Schnatterinchen, Herrn Fuchs und Frau Elster mitreden und war allzeit bereit, mich zum Einbürgerungstest schwierigsten Prüfungsfragen zu stellen: "Wieviel PS hat ein Wartburg 353"?, "An welcher Schule wurde der Film 'Alfons Zitterbacke' gedreht?" oder "Wie hieß Margot Honecker mit Mädchenname?"

Ich sammelte Dinge, die aus der volkseigenen Konsumgüterproduktion noch zu haben waren; zuerst alles, später dann aus Platzgründen nur noch flache Dinge. Ich versuchte, möglichst viel über das Leben in der Zone in Erfahrung zu bringen und veränderte meine Sprache dahingehend, dass ich "Briefmorke" statt "Briefmarke" sagte, oder "No" statt "Ja" und ging sogar soweit, in manchen Regionen Thüringens, in denen der eine so aussieht, wie der andere heißt, also entweder Vorkäufer oder Agathe, an möglichst viele Verben ein "e" anzuhängene.

Auch ging ich mit den Jahren dazu über, auf Fangfragen wie "Na, wie geht es ihnen?" nicht mit Floskeln wie "Ich kann nicht klagen" oder "Super" zu antworten und über "Mein Haus, mein Auto, meine Frau, meine Kinder" zu berichten, sondern fing an zu stöhnen und ausführlich mein Leid zu erwähnen, selbst dann, wenn es mir persönlich gar nicht besser hätte gehen können. Man kann sich vorstellen, wie schwierig das Ganze für mich war, wenn man in einem Land aufgewachsen ist, in dem es sofort käufliche Autos, Nesquick Bananengeschmack und die "BILD"-Zeitung gab.

Eines Tages kam in einer Unterhaltung mit einem ostdeutschen Mitmenschen über das Führen des Hausbuches, neben peinlichem Unwissen meinerseits für drei Sekunden ein klein wenig hessischer Dialekt zum Vorschein. Mein Gegenüber sah ich entgeistert an und sagte dann: "Ich hätt es wissen müssen". Was er hätte wissen müssen, wollte ich wissen. "Du bist ein Thorsten mit 'Th'. Unsere Torsten werden alle ohne 'h' geschriebene". - Das saß!!! Zumal ich im Westen schon voll als Ossi akzeptiert bin, sobald das Gespräch darauf kommt, wo ich wohne.

"Ach, von drüben kommen sie? Merkt man gar nicht." Die meinen das vermutlich sogar als Kompliment. Bei einem Barbeque in Meerbusch wollte man doch allen Ernstes von mir wissen, ob man "früher ind er DDR" auch gegrillt hätte? Ob man dort "auch" Holzkohle gehabt hätte? Mir war nicht sofort klar, ob es sich angesichts der Thüringer Bratwurst nur um eine Dummheit oder um reine Frechheit handelte.

Als jemand, der weiß, wie wichtig es in der DDR war, sich anzupassen, antwortete ich natürlich wahrheitsgemäß: "Nachdem man den Grill mit Holzkohle bestückt und diese angefeuert hatte, wurden anschließend Fleisch oder Würste auf den Rost gelegt", sagte ich. Es folgte verblüfftes Schweigen, das erst beendet wurde, als ein anderer Gast jahrzehnte alte Gruselgeschichten von Transitreisen nach West-Berlin berichtete.

Vorsichtshalber habe ich nun meinen Vornamen um ein "h" gekürzt und versuche niemals zu vergessen, dass ein Wartburg 353 fünfzig PS hat, 'Alfons Zitterbacke' an der Nordschule in Jena gedreht wurde und Margot Honecker mit Mädchenname "Feist" hieß. Ich hoffe, dass mir irgend jemand irgendwann einmal ein Bienchen dafür gibt.